Das Mädchen auf der grünen Bank
Kapitel 1
Die warmen Sonnenstrahlen kribbelten auf Emilias Haut. Mit einem breiten Lächeln streckte sie ihr Gesicht dem hellen Licht entgegen. Ihre Augen waren geschlossen, dadurch nahm sie die Geräusche intensiver wahr. Vor ihr gluckerte leise das Meer, wenn es sanft gegen die felsige Küste schwappte. Über ihr kreischten die Möwen und irgendwo lachten ein paar Kinder.
Es war einer der ersten angenehmen Frühlingstage in Helsinki und Emilia genoss den Duft des wärmeren Wetters. Saftige Grashalme sprossen hervor und ein paar Knospen deuteten sich an den kahlen Ästen der Bäume an. Sie saß auf einer grün lackierten Holzbank mit Blick auf das Meer hinaus. Vor ihr schlängelte sich ein breiter asphaltierter Weg, der den Passanten einen herrlichen Spaziergang am Wasser entlang ermöglichte. Anfang April tummelten sich dort noch nicht viele Touristen, doch nach dem langen Winter, trieb es die Menschen hinaus in die Sonne.
Sie streckte den Kopf ein bisschen höher und atmete tief ein. Glücklich legte sie ihre Hand auf die Brust, um das Gefühl noch mehr auszukosten.
Als eine winzige Wolke ihr die Wärme nahm und der eisige Wind über sie blies, blickte sie wieder auf. Vor ihr schossen Inline-Skater und Radfahrer vorbei. Familien schlenderten mit ihren Kindern an der Hand voran und Jogger überholten diese wiederum schnaufend. Sie grinste und widmete sich dann wieder dem aufgeklappten Laptop auf ihrem Schoß. Ihre Finger ruhten auf der Tastatur und mit einem tiefen Seufzen begann sie weiter zu schreiben. Ganz am Anfang fühlte sich diese neue Routine noch seltsam an, aber mit jedem Wort, mit jeder Seite spürte sie, dass es das Richtige für sie war. Sie tippte konzentriert vor sich hin und genoss die Atmosphäre. Ab und zu geriet ihr Schreibfluss ins Stocken, weil sie nicht wusste, wie sie einen harmonischen Übergang kreieren konnte oder wenn ihr nicht die richtigen Worte einfallen wollten. In diesen Momenten hob sie den Kopf und sah sich die Umgebung an. Das fröhliche Treiben der anderen Menschen oder den Segelflug einer Möwe. Deswegen kam sie nun schon die zweite Woche her, weil sie merkte, wie ihre Gedanken außerhalb ihrer Wohnung freier wurden.
Wenn sie in ihre Zeilenwelt eintauchte, dämpfte sich die Geräuschkulisse ab. Der Fokus lag auf den Buchstaben, die durch jeden Anschlag Worte formten. Nur das Klackern der Tasten drang an ihr Ohr und ergab einen beruhigenden Rhythmus. Erst wenn der Strom an Inspiration abbrach, tauchte sie aus diesem Rausch auf, wie nach dem Tauchen durch die Wasseroberfläche. Dann prasselten die Eindrücke lautstark auf sie ein.
Sie schrieb solange, bis sie im aktuellen Abschnitt nicht mehr weiterkam. Der Cursor blinkte seit ein paar Minuten an derselben Stelle. Außerdem waren ihre Finger klamm und auch ihre Nase fror im kühlen Wind. Kurz bevor die Sonne verschwand, packte sie ihren Computer weg. Die Jacke zog sie bis obenhin zu und die graue Stoffmütze tief ins Gesicht. Durchgefroren, aber glücklich machte sie sich auf den Weg zur Straßenbahn.
Kapitel 2
In den kommenden Wochen saß sie mehrmals auf der Bank und versuchte ihre Gedanken in den Laptop einzutippen. Es wurde von Tag zu Tag wärmer, doch auch verregnete Stunden, hielten sie nicht davon ab, wenn sie das Gefühl hatte, heute voranzukommen. Nicht weit von der Bank befand sich eine weiße Holzhütte, aus der heraus Eis verkauft wurde. Die Sonnenschirme davor dienten Emilia an Schlechtwettertagen als Regenschutz. Solange es nicht zu kalt war, ging sie so oft es ihr möglich war, an die Küste, um zu schreiben.
Obwohl sie nicht immer exakt zur selben Uhrzeit ihre Stellung bezog, merkte sie schnell, wieviel Routine auch bei den anderen Menschen herrschte. Morgens fuhren dieselben Fahrräder vorbei und abends joggten dieselben Paare. Nachmittags tauchten Kinder auf, die auf einem Spielplatz ihre Freizeit verbrachten und selbst die Boote erkannte sie nach kürzester Zeit, die vor ihr übers Meer glitten. Ein Lächeln huschte über ihre kühlen Lippen, weil sie sich als Teil des Ganzen fühlte. Obwohl sie heute müde und erschöpft war, erfüllte sie Zufriedenheit. Die Datei nahm zwar nur langsam Gestalt an, doch mit jeder Seite wurde sie selbstbewusster.
Neben ihr stand wie immer ein Thermobecher mit warmen Kaffee und als Verpflegung hatte sie Obst und Sandwiches mit. Emilia verbrachte so viele Stunden wie möglich unter freiem Himmel. Sie musste zwar aufpassen sich nicht zu erkälten, weil es immer noch schnell frisch werden konnte, doch dafür nahm sie mehrere Schichten Klamotten in Kauf.
In der Nacht hatte es geregnet, aber nun kämpfte sich die Sonne durch die Wolkendecke und erwärmte zügig die Luft. Der Wind blieb hartnäckig und brachte das Meer dazu rauschend gegen die Felsen zu schlagen. Sie liebte den leicht salzigen Geschmack auf ihren Lippen.
Eine kräftige Böe ließ den Stoff der Schirme zu ihrer Rechten lautstark flattern, worauf sie den Kopf hob. Vor ihr lief gleichzeitig ein großer Mann schnaufend vorbei, der sich dem Wind schräg entgegenstemmte. Wenn sie sich nicht täuschte, war es der Kerl, der später denselben Weg wieder zurücklaufen sollte. Sie bewunderte diese Menschen mit ihrer Ausdauer und sah ihm eine Weile nach, bis er hinter der nächsten Kurve verschwand. Sie nahm einen großen Schluck vom Kaffee und genoss das Gefühl, wie sich die Wärme in ihrem Magen ausbreitete, bis in ihre Fingerspitzen. Bevor sie weiterschrieb, zog sie das schwarze Notizbuch aus ihrem Rucksack hervor. Darin hatte sie all ihre Gedanken zu dem Buch niedergeschrieben. Es war ihr Leitfaden und erinnerte sie stets daran, wo die Geschichte enden musste. Lächelnd blätterte sie die bekritzelten Seiten durch und fuhr mit den Fingern über die Schrift. Sie spürte die Vertiefungen der Linien, die die Kugelschreibermine hinterlassen hatte.
Kapitel 3
Mitte Mai war der erste Tag, an dem Emilia in kurzem Shirt auf ihrer Bank sitzen konnte, ohne zu frösteln. Neben ihr stand der leere Kaffeebecher, während sie sich nachdenklich die letzte Weintraube in den Mund schob. Der süße Geschmack erinnerte sie bereits an den Sommer. Lediglich ein paar zarte Schäfchenwolken schoben sich über den blauen Himmel. Sie war früher gekommen als normal und hatte schon viel in ihrem Manuskript geschafft. Sie überarbeitete nachdenklich immer wieder vorangegangenen Passagen. Genüsslich streckte sie ihre Arme nach oben und bog den Rücken durch. Lächelnd faltete sie die Hände vor der Brust und sog den Duft des Frühlings ein. Der Eisstand hatte eröffnet und verteilte seine Ware an die ersten ungeduldigen Gäste. Immer mehr Insekten summten um sie herum und zwischen dem grünen Gras erhoben sich bunte Blütenpunkte.
Weil sie hungrig war, beschloss sie Schluss zu machen und nach Hause zu gehen. Eilig packte sie ihre Sachen in den großen Rucksack und steuerte auf den Weg vor sich zu. Die Wiese glänzte feucht vom Morgentau und begann erst jetzt in der steigenden Sonne zu trocknen. Sie grinste, während sie das Glitzern auf den Halmen beobachtete und weiterging.
Tief versunken in Gedanken, bemerkte sie die Radfahrerin nicht, die sogar noch warnend klingelte. Erschrocken sprang sie zur Seite und rammte dabei einen Läufer, aus der anderen Richtung kommend. Der Mann in blauer Windjacke taumelte kurz, sprang jedoch geschickt zur Seite, ohne zu fallen. Er rief ein keuchendes »Entschuldigung« über seine Schulter, blieb aber nicht stehen. Emilia verharrte mit wild schlagendem Herzen und blickte auf seinen breiten Rücken. Er lief schnell, mit Kopfhörern in den Ohren und beachtete sie nicht weiter. Sie atmete erleichtert aus.
Als sie sich beruhigt hatte und weitergehen wollte, stieß ihr Fuß gegen ein Hindernis auf dem Boden. Vor ihren Zehen lag ein schwarzes Portmonee aus Kunstleder. Sie war sich ziemlich sicher, dass es vorher noch nicht mitten auf der Straße gelegen hatte. Nachdenklich bückte sie sich danach, um es aufzuheben. Es war schwer und wirkte prall gefüllt. Emilia sah instinktiv links und rechts den Weg entlang. Vermutlich gehörte es entweder der Radfahrerin oder dem Jogger. Rasch ging sie ihre Optionen durch und überlegte, wo sie Fundsachen abgeben konnte. Sie wusste was sich gehörte und wollte es keinesfalls behalten. Neugierig war sie trotzdem. Dem Impuls nachgebend klappte sie es schließlich auf und einige identische Visitenkärtchen rutschten heraus. Sie las den Namen interessiert leise vor und steckte sie danach zurück. Der Führerschein mit Foto bestätigte ihr, wem die Geldbörse gehörte. Ihr Kopf ruckte erneut hoch in die Richtung, in die der Mann mit der Windjacke gelaufen war.
Nach ein paar Sekunden des Zweifelns, beschloss sie zu warten. Sie vermutete, dass es der Läufer war, der alle paar Tage an ihr vorbeirannte und dann wieder kam. Vielleicht hatte sie Glück und sie konnte es ihm zurückgeben. Wenn nicht, würde sie es zu einer Polizeistelle bringen. Deswegen trottete sie zu ihrer Bank, legte ihren Fund auf den Schoß und richtete ihre Augen auf den Weg.
Ihr Magen knurrte lautstark, doch sie blieb auch nach einer halben Stunde sitzen und sah immer wieder in die Richtung, aus der der Fremde zurückkommen sollte. Ungeduldig ließ sie ihre Füße von der Bank baumeln. Mehrere Male war sie alarmiert hochgeschreckt, doch heute waren einige laufende Menschen unterwegs. Je später der Mittag wurde, desto mehr Leute wollten das schöne Wetter genießen, obwohl es mitten unter der Woche war.
Schließlich hatte sie Glück. Der Mann in der blauen Windjacke und der grauen Jogginghose kam um die Kurve gelaufen. Viel schneller, als sie gedacht hatte. Hektisch sprang sie hoch und eilte über die Wiese. Sie versuchte ihn lautstark auf sich aufmerksam zu machen. »Hei!«, rief sie und winkte mit der Hand. Er rannte zielstrebig mit großen Schritten weiter, ohne zu ihr zu sehen. Emilia wurde die letzten Meter noch schneller. Mittlerweile fuchtelte sie mit beiden Armen herum, inklusive dem Portmonee in der Hand. Wütend schlitterte sie kurzerhand von der feuchten Wiese auf den Weg, mitten vor seine Füße. Gerade noch rechtzeitig, um ihn zum Stoppen zu zwingen. »Bleib doch stehen«, keuchte sie aufgebracht und drückte ihm direkt ihre Handfläche gegen die Brust. Ihr Herz pumpte rasant und ihre Lunge sog kräftig die Luft ein. Sie war nur wenige Schritte gerannt, doch ihr fehlte jegliche Kondition. Sie schnaufte heftig und verkrallte ihre Finger in seinem Shirt, um Halt zu finden, weil ihre Knie weich wurden. Sie fühlte seinen schnellen Atem dadurch ganz deutlich auf ihrer Haut. Er schnaufte ebenso. Als Emilia wieder genügend Lungenvolumen zur Verfügung hatte, blickte sie auf und trat beschämt einen Schritt zurück. Luka Ranta war ein großer Mann, der nun verschwitzt mit geröteten Wangen auf sie herabsah. Auf seiner vor Schweiß schimmernden Stirn bildeten sich tiefe Falten, als er die hellen Brauen hochzog. Sie ließ sich nur kurz einschüchtern und hielt ihm schließlich ihren Fund vors Gesicht. Er wich mit dem Oberkörper ruckartig zurück, bevor er erkannte, was sie wollte. Endlich zog er sich die In-Ear Kopfhörer heraus und strich sich gleichzeitig die nassen blonden Haare mit der Hand nach hinten. Ein paar Strähnen klebten feucht auf seiner Schläfe. »Ich glaube, das hast du vorhin verloren«, sagte Emilia wieder normal atmend. Luka nahm es nicht sofort in die Hand, sondern klopfte instinktiv seine Gesäßtaschen ab, als die Erkenntnis in sein Gesicht trat. Seine Züge entspannten sich und er lächelte sie breit an. Seine blauen Augen zuckten, als sein Blick über ihre Gestalt wanderte. »Du bist doch vorher schonmal im Weg gestanden«, sagte er seine ersten Worte. Sie schnaubte verärgert. »Das war keine Absicht. Ich musste der Radfahrerin ausweichen.«
Lukas Grinsen wurde breiter. Er nahm sein Portmonee an sich, sah kurz hinein und nickte. »Das ist wirklich meins. Vielen Dank. Hast du etwa auf mich gewartet?«, plapperte er plötzlich aufgeschlossen los. Seine Atmung hatte sich ebenfalls normalisiert. Emilia zuckte mit den Schultern. »Ja, ich habe dich hier schon ein paar Mal entlanglaufen gesehen. Ich sitze oft da drüben auf der Bank und dachte mir, vielleicht kommst du wieder.«
Der vertraute Tonfall war ihr nicht unangenehm. Emilia hielt sich selten mit unnötigen Floskeln auf.
Luka steckte die Geldbörse ein und nickte erneut. »Nochmal danke und entschuldige, dass ich dich ignoriert habe. Ich wollte nicht ...«, begann er, doch sie würgte seine Erklärung ab, in dem sie die Hand hob und ihn unterbrach. »Kein Problem. Allerdings wärst du mir fast davongelaufen! Lass dich nicht aufhalten. Einen schönen Tag noch!«, sagte sie eilig und kehrte ihm den Rücken zu. Sie wollte das Gespräch nicht vertiefen und ihm nicht weiter auf die Nerven gehen. Immerhin war es auch ein bisschen ihre Schuld gewesen, dass er ins Taumeln geraten war. Außerdem wollte sie nicht in Verlegenheit geraten etwas Peinliches zu sagen. Sie zog die Schlaufen des Rucksacks enger und bemühte sich schnellen Schrittes zur Straßenbahn zu gehen, um zu verhindern, dass er merkte, wie das Blut in ihre Wangen schoss und sie rot färbten.
Kapitel 4
Die nächste Zeit schaffte es Emilia fast täglich auf ihre Bank. Einmal saß ein älterer Herr darauf und sie musste sich sehr zusammenreißen nicht enttäuscht zu sein. Sie hatte diesen Platz liebgewonnen und wollte auch auf keine andere Bank ausweichen. Sie bot den perfekten Blick auf die gegenüberliegenden Inseln und war nicht zu weit weg von der Straße. Bis er aufstand und ging, verweilte sie bei dem Eisstand, um dann so schnell wie möglich unauffällig hinüber zu gehen und sich ihre Position zu sichern. Die Begegnung mit Luka war ihr positiv in Erinnerung geblieben. Sie schmunzelte, weil sie sich an das Bauchkribbeln erinnerte, das sie verwirrte. Es war albern, aber sie bekam ihn nicht so leicht aus dem Kopf. Vor allem, weil er ihr seitdem erneut zweimal über den Weg gelaufen war. Er kam nicht jeden Tag und auch zu unterschiedlichen Uhrzeiten, doch Emilia saß so oft und solange auf ihrer Bank, dass sie ihn jedes Mal erkannte. Sie erwischte sich sogar dabei, ab und zu öfter als normal von ihrem Laptop hochzusehen, bis er vorbeigelaufen war. Seitdem winkte er ihr flüchtig breit grinsend. Heute hatte sie ihn noch nicht gesehen, aber sie war ohnehin komplett abgelenkt.
Es war Wochenende, perfektes Frühsommerwetter und ziemlich laut rund herum. Normalerweise mochte sie all die Geräusche. Heute waren ihr die gutgelaunten Menschen zu viel. Deswegen hatte sie breite Kopfhörer aufgesetzt, um sich abzuschirmen. Sie stockte in ihren Zeilen und starrte frustriert auf den Bildschirm. Zweimal war er schon in den Stromsparmodus gewechselt. Sie war an einer kritischen Stelle, die sie sehr mitnahm. Ihr Fuß tippte im Takt zur Musik gegen den Rucksack auf dem Boden. Ihre Hand wiederum spielte mit dem Pappbecher voller Kaffee, weil sie ihren eigenen zuhause hatte stehen lassen.
Seufzend schloss sie die Augen und versuchte in sich zu gehen. Sie wusste, was sie schreiben musste, aber es wollte sich nicht richtig formulieren lassen.
Ein kühler Luftzug fegte an ihr vorbei und ließ sie aufschrecken. Im selben Augenblick flog etwas großes dicht an ihrem Gesicht vorbei. Sie schrie hysterisch auf, riss die Hände hoch und duckte sich gleichzeitig weg. Die Kopfhörer rutschten dabei von den Ohren und katapultieren sie in den Nachmittagslärm hinein. Etwas Warmes sickerte über ihr Knie und sie sah sich verwirrt um.
»Entschuldigung. Das wollte ich nicht. Habe ich dich getroffen?«, fragte ein kleiner Bub mit schwarzem Lockenkopf. Er kam zu ihr gelaufen, mit einem Fußball unter den Arm geklemmt. Emilia blickte von dem Ball zu dem Kind und dann auf den braunen Fleck, der sich auf ihrem Knie ausbreitete. Erst jetzt begriff sie, dass er sie nur um Haaresbreite verfehlt und dafür den Kaffeebecher zermalmt hatte. Sie strich sich ihre blonden Haare aus dem Gesicht, die sich in den Kopfhörern verfangen hatten. »Nein, mir gehts gut. Alles in Ordnung!«, antwortete sie verspätet, weil das Kind sie mit schuldbewusster Miene anstarrte. »Wirklich. Nichts passiert!«, setzte sie fort. Er verweilte noch einen Augenblick, ehe er grinsend nickte und eine breite Zahnlücke offenbarte. Glücklich darüber, keinen Ärger zu bekommen, flitzte er davon. Emilia holte eine Packung Taschentücher hervor und tupfte damit das Kaffeedesaster trocken. Bis auf ihr Knie hatte nur die Bank etwas abbekommen. Ihr Laptop war Gott sei Dank verschont geblieben. Als alles sauber war, stand sie auf und brachte eine Handvoll nasser Taschentücher zu einem Mülleimer, nicht weit von der Bank. Mit einem weiteren sauberen Tuch wischte sie sich die Finger ab.
Nachdem sie sich umdrehte und zurück gehen wollte, stellte sie empört fest, dass jemand bereits dort saß. Auf ihrem Platz. Der Ärger hielt nur kurz, weil sie den Mann erkannte. Luka lächelte sie freundlich an und hielt ihr zwei Kaffeebecher hoch entgegen. »Hei! Ich habe das ganze Drama beobachtet und fühlte mich verpflichtet zu helfen«, rief er ihr zu.
Emilia zögerte und blieb bei dem Mülleimer stehen. Sein Auftauchen traf sie unvorbereitet. Außerdem war es ihr peinlich, dass er ihren schrillen Schrei wohl live mitbekommen hatte. »Komm schon. Ich beiße nicht«, lockte er sie. Er trug wieder seine graue Jogginghose, doch diesmal nur ein dunkles Shirt. Langsam ging sie zu ihm und setzte sich misstrauisch. Der Laptop stand zwischen ihnen, was ihr nur recht war. Es war offensichtlich, dass er gerade noch gelaufen war, denn dunkle Schweißflecken auf seiner Brust und die feuchten Haare fielen ihr sofort auf. »Ich wusste nicht wie du ihn trinkst. Wir haben hier einmal schwarz und einmal mit Milch und Zucker«, erklärt er mit Blick auf die großen Starbucks Becher.
Emilia betrachtete ihn verwirrt. Er saß so nahe, dass sie die einzelnen Barthaare auf seinen markanten Wangen erkennen konnte und die Fältchen um seine Augen, aus denen er sie auffordernd anfunkelte.
»Schwarz mit Zucker«, sagte sie schließlich. Er nickte und reichte ihr einen der Becher. Danach griff er siegessicher in seine Hosentasche und zauberte zwei Papierpäckchen hervor. »Süßstoff hätte ich auch im Angebot gehabt!«
Sie lächelte überrascht und leerte sogleich das weiße Pulver in den Kaffee. Mit einem Plastikstäbchen rührte sie verlegen darin um. »Danke. Das wäre nicht nötig gewesen!«
Er zuckte mit den Schultern und nahm selbst vorsichtig einen Schluck von dem brennheißen Getränk. »Ich dachte es wäre eine gute Gelegenheit, mich nochmal zu bedanken, dass du mir mein Portmonee zurückgegeben hast. Tut mir leid, wenn ich dich ignoriert habe, aber die Musik war zu laut und ich war mit den Gedanken ganz woanders!«, sagte er mit Blick aufs Meer hinaus. Sie schüttelte den Kopf und schloss die kalten Finger um den warmen Becher. Der Duft des frischen Kaffees tat gut. »Kein Problem. Ich kann mir vorstellen, dass ein CEO schwer beschäftigt ist und viel zu tun hat«, mutmaßte sie leise. Mit überrascht nach oben gezogenen Augenbrauen musterte er sie darauf eindringlich von der Seite. Ertappt verkrampfte sie sich. »Ich habe nur kurz auf deine Visitenkarten geblickt und sonst nichts angefasst«, nuschelte sie. Luka sagte weiterhin nichts, doch als sie zu ihm blinzelte, zog er den rechten Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen hoch. Sie war erleichtert, dass er nicht böse wirkte. »So so, du weißt also wer und was ich bin«, sagte er amüsiert.
Seine Wortwahl brachte sie zum Lachen und sie lehnte sich entspannter zurück. Möwen kreischten und kreisten über ihren Köpfen. Sie hob das Kinn und sah ihnen zu, wie sie ausspähten, welchen Touristen sie das Essen klauen konnten.
»Und wer und was bist du?«, fragte Luka irgendwann, weil sie nicht auf ihn eingegangen war. Er strich sich wieder die halblangen Haare nach hinten und legte ein Bein lässig auf das andere Knie.
Emilia wandte sich ihm lächelnd zu. Seine blauen Augen zogen ihren Blick auf sich, doch trotzdem ließ sie sich nicht so leicht aus der Reserve locken.
»Ich bin das Mädchen auf der grünen Bank.«
Luka betrachtete sie einen Herzschlag lang überrumpelt und lachte anschließend laut und tief los. Seine Brust hob und senkte sich dabei und er schüttelte den Kopf. Seltsamerweise bohrte er nicht nach, sondern ließ ihr den Freiraum, in dem er sich wieder seinem Kaffee und der Umgebung widmete.
Eine Weile saßen sie da und beobachteten zusammen still das Meer. Ein imposantes Segelboot fuhr an ihnen vorbei und die Menschen darauf schienen in Feierlaune zu sein. Dumpfe Musikklänge wehte der Wind heran und mehrere Gestalten hielten sich an Deck auf.
Irgendwann blickte Luka auf seine Armbanduhr und setzte sich gerade auf. »Also gut. Hat mich gefreut, Mädchen auf der grünen Bank. Wir sehen uns bestimmt bald wieder«, sagte er, als er aufstand und sich vor er streckte. Emilia nickte nur unmerklich und nahm einen weiteren Schluck von ihrem Kaffee. Er winkte ihr noch einmal zu, bevor er in gemäßigtem Tempo zurück zum Weg lief und verschwand. Sie blinzelte irritiert und blieb noch ein paar Minuten grinsend sitzen. Solange, bis der Kaffee leer war und sie nach Hause ging.
Kapitel 5
»Was schreibst du da eigentlich immer?«, fragte Luka neugierig und versuchte sich zu ihr zu beugen, um auf den Bildschirm zu schauen. »Lass das«, zischte Emilia und drehte den Computer prompt weg. »Ich mag das nicht.«
Er zuckte mit den Schultern und verschränkte die Arme. Heute trug er nur ein Muskelshirt, weil es für Mitte Juni ungewöhnlich warm war. Emilia antwortete nicht, sondern tippte rasch den Absatz zu Ende, bevor ihr die Worte drohten wieder verloren zu gehen. Erst als der Punkt gesetzt war, sah sie seufzend auf.
»Wieso setzt du dich in letzter Zeit immer ungefragt zu mir? Dadurch unterbrichst du dein Training und mich im Schreibfluss!«, sagte sie, ohne ernsthaft böse zu sein. In den letzten Wochen war Luka ihr immer öfter aufgefallen. Sie trafen sich nicht jeden Tag, aber mittlerweile war er es, der auf sich aufmerksam machte, wenn er vorbeilief. Seit einer Woche stoppte er ab und zu auf seinem Rückweg und gesellte sich zu ihr auf die Bank. Anfangs war sie genervt, weil er ihre Konzentration störte, doch da er meistens nur still da saß und nach vorne sah, hatte sie sich damit arrangiert. Heute war er allerdings zum Plaudern aufgelegt und das überforderte sie. Sie waren Fremde, die trotzdem vertraut miteinander umgingen, ohne dass er ihren Name kannte.
»Ich trainiere nicht für einen Marathon, sondern weil mir das Laufen hilft den Kopf frei zu kriegen. Hier zu sitzen und dir beim Schreiben zuzusehen, ist aber auch entspannend«, gestand er und machte sie noch verlegener. Sie klappte den Laptop zu und packte ihn in den Rucksack. Sie fühlte sich heute nicht besonders fit, weil ihr Kreislauf mit dem warmen Wetter kämpfte.
»Ich habe auch ein Buch geschrieben. Einen Businessratgeber gemeinsam mit meinem Bruder. Sehr trocken und langweilig, aber es ist gutes Marketing für unser Unternehmen. Worum geht es in deinem? Oder bist du Journalistin?«, hinterfragte er erstmals.
Sie verschränkte ihrerseits auch die Arme vor der Brust, so wie er es gerne tat. »Ich schreibe etwas sehr Emotionales und definitiv nichts Trockenes!«
Er grinste schelmisch. Schweißperlen glitzerten auf seinen Wangen, dabei roch er niemals unangenehm, sondern immer frisch, als wäre er nicht gerade erst gejoggt.
»Also sag, wieso setzt du dich in letzter Zeit zu mir?«, wollte sie wissen, weil sie es wirklich interessierte.
»Weil ich es wie gesagt beruhigend finde. Außerdem bin ich neugierig, was hinter dem Mädchen auf der grünen Bank steckt. Machen wir ein Spiel draus. Ich frage dich bei jedem unserer Treffen erneut nach deiner Geschichte und du verrätst mir ein Detail mehr. Ich werde raten und es herausfinden.«
Seine Worte überraschten sie. Es fühlte sich nach ehrlichem Interesse an und schmeichelte ihr. Trotzdem wurde sie aus dem Mann nicht schlau und blieb vorsichtig.
»Was passiert, wenn du es erraten hast. Lässt du mich dann in Ruhe fertig schreiben?«
Luka lehnte sich nach vorne und stütze sich mit den Ellenbogen auf seinen Knien ab. Dadurch fiel sein Shirt vorne lose von seiner Brust und gab den Blick auf viel Haut frei. Emilia konnte nicht anders als hinzusehen. Er ließ sich durch ihr Starren nicht beirren und grinste selbstbewusst. »Das überlege ich mir noch! Für heute ist mein Tipp: Du schreibst eine Geschichte über eine Frau, die ihr Kind sucht, das sie zur Adoption freigegeben hat!«
Vollkommen perplex blinzelte sie ihn an. Seine Fantasie überraschte sie immens. »Falsch!«, enttäuschte sie ihn. Seine Schultern zuckten und dann stand er abrupt auf.
»Die nächste Woche bin ich beruflich in Deutschland unterwegs. Aber wie wäre es denn, wenn wir danach am Samstag gegen 15 Uhr eine neue Raterunde einlegen?«
Ohne, dass sie antwortete, verschwand er seines Weges. Die erste Reaktion war Trotz. Keinesfalls wollte sie sich von ihm vorschreiben lassen, wann sie auf ihrer Bank zu sein hatte. Andererseits spürte sie, dass sie sich jetzt schon auf diesen Samstag freute.
Kapitel 6
Eine Woche ohne Lukas Bank-Besuche ging für Emilia sehr produktiv vonstatten. Sie hatte weit die Hälfte ihres Manuskriptes fertig und fühlte sich mehr als nur sicher in dem, was sie tat. Bisher hatte es eine lange Regenperiode gegeben, die Emilia öfter unter die Sonnenschirme zwang, statt auf ihrer Bank zu sitzen. Die frische Luft, getränkt mit der Feuchte des Regens, tat ihren Lungen gut. Sie hatte Phasen, in denen es ihr nicht so gut ging und dann wieder Tage, an denen sie glaubte alles zu schaffen.
Kurz hatte sie überlegt, genau den speziellen Samstag auszulassen und zu Hause zu bleiben. Sie wusste nichts Persönliches über Luka und er noch weniger über sie und das war das, was sie wollte. Dieses Jahr gehörte nur ihr. Sie brauchte das.
Trotzdem saß sie Samstagnachmittag mit dem Laptop auf dem Schoß auf der Bank und wartete auf Luka. Das erste Mal kam sie nicht dorthin um allein zu sein und nur zu schreiben.
Sie kam sich lächerlich vor und überlegte mehrmals vorher schnell zu verschwinden. Ihre Grübeleien dauerten allerdings solange, bis er auf dem Weg entlang gelaufen kam. Zwar wie immer in Sportbekleidung und joggend, aber mit zwei Kaffeebechern in den Händen.
»Moi. Schön, dass du gekommen bist. Ich war mir nicht sicher, denn du hast nach meinem Vorschlag ganz schön schockiert dreingesehen das letzte Mal«, begrüßte er sie strahlend. Emilia nahm ihm sofort den Kaffee ab und rutschte zur Seite. »Ich finde dich seltsam, aber bisher hast du dich ja sittlich verhalten!«, scherzte sie. Er zog amüsiert eine Augenbraue hoch und setzte sich seufzend. »Meine Absichten sind völlig harmlos.«
Heute trug er kurze Shorts und ein schwarzes Oberteil. Es lag sehr eng an und spannte über seinen trainierten Armen. Dass Emilia ihn attraktiv fand, war ihr nicht peinlich. Dass man es ihr so deutlich ansah und sie ihn ständig bis ins kleinste Detail musterte schon. Luka war höflich genug nicht auf ihre geweiteten Augen einzugehen, die seine Muskeln fixierten. Es war lange her, dass sie einen Mann an ihrer Seite gehabt hatte. Das Leben kostete sie viel Kraft und auch wenn sie sich manchmal wen zum Anlehnen wünschte, fiel es ihr leichter für sich zu sein.
»Du siehst müde aus!«, sagte er zu ihr und sie schüttelte ihre Gedanken ab. Da sie sich nicht schminkte, war es keine Überraschung, dass er erkennen konnte, dass sie angeschlagen war. »Und du schwitzt wie immer«, konterte sie spitz.
Zufrieden saßen sie nebeneinander und tranken ihren Kaffee. Luka erzählte von seiner Reise nach Deutschland, blieb jedoch auffallend oberflächlich. Während er mit Details über den Flieger, Berlin und das deutsche Bier um sich warf, blieb der Grund seines Auslandsaufenthalts völlig im Unklaren. Es störte sie nicht. Sie genoss es tatsächlich sich mit ihm so unverfänglich zu unterhalten und er hatte eine tolle Art zu reden. Er gestikulierte mit den Händen, lachte und seine Mimik untermalte stets seine Gefühle. Emilia merkte, dass die Einsamkeit, die sie sich selbst auferlegt hatte, um das Buch zu schreiben, nicht immer nur Vorteile hatte.
»Okay, ich bin bereit für einen neuen Hinweis!«, sagte er, als er ihre beiden leeren Kaffeebecher weggeworfen hatte und zurückkam. Sie fuhr mit den Fingern über die glatte Oberfläche des Laptops und lächelte. »Nun gut. Also meine Zeilen sind emotional und es kommt viel Herzschmerz drin vor.«
Luka verzog das Gesicht, als er sich neben sie auf die Bank plumpsen ließ. »Eine emotionale Liebesgeschichte, über eine Fernbeziehung auf zwei unterschiedlichen Kontinenten!«
Emilia lachte erheitert auf und legte den Kopf in den Nacken. Ihre schulterlangen Haare fielen über die Lehne der Bank und sie hielt sich die Hand vor den Mund. Es tat ihr gut so frei loszuprusten, auch wenn es unvorbereitet kam. »Nein. Aber ich bewundere deinen Einfallsreichtum. Bin gespannt was dir beim nächsten Mal einfällt!«
Überrascht sah er sie an, während sie tief durchatmete und sich an die Brust griff, um den Herzschlag darunter zu fühlen. »Das heißt, es gibt ein nächstes Mal? Ich dachte ich halte dich vom Schreiben ab und soll nicht nerven?«, fragte er herausfordernd. Sie setzte sich auf und rutschte nervös hin und her. »Ich verstehe nur nicht, was du hier willst. Aber eigentlich finde ich deine Gesellschaft recht angenehm, Vor allem, wenn du Kaffee mitbringst!«, gestand sie offen und ehrlich. Luka machte es sich bequem, streckte seinen Kopf in die Sonne und breitete die Arme hinter ihnen auf der Lehne aus. Dass seine Hand dabei ihrem Nacken sehr nahe kam, registrierte nur Emilia. Vor allem, dass es sie ohne Grund hibbelig machte.
»Nur zu. Schreib und ich überlege weiter«, murmelte er. Einen Augenblick beobachtete sie sein entspanntes Gesicht, bis sie sich aufraffte und ihren Computer öffnete.
Kapitel 7
Der Sommer schritt rasch voran und Emilia liebte es. Sie saß immer länger auf ihrer Bank und musste aufpassen, keinen Sonnenbrand zu bekommen. Mal verbrachte sie die Zeit mit Kopfhörern, mal lauschte sie dem Meer und den Möwen. Sie variierte mit den Zeiten von früh morgens, bis spät abends. Nur Hunger oder der Toilettendrang zwangen sie dazu, nach Hause zu gehen. An den Tagen, an denen es stürmte oder schüttete, blieb sie daheim und gönnte sich und ihrem Kopf eine Pause.
Luka sah sie weiterhin unregelmäßig. Er war viel beschäftigt und verschwand wieder für mehrere Tage. Manchmal joggte er entspannt an ihr vorbei und dann kam er wieder überraschend zu ihr auf die Bank. Sie plauderten immer offener, doch sie merkte, dass sie beide darauf achteten keine zu privaten Details preis zu geben. Es störte sie nicht, denn sie fühlte sich bei ihm dennoch von Mal zu Mal wohler. Er brachte sie zum Lachen und manchmal sprachen sie auch über aktuelle Themen in der Welt. Was sie sehr überraschte, war, dass ihr das Schreiben in seiner Nähe sehr leicht fiel. Manchmal half er ihr sogar über eine Blockade hinweg.
»Okay. Fassen wir zusammen. Dein Roman ist emotional mit Herzschmerz. Du hast gesagt, es kommt Blut drin vor und auch Angst. Das finde ich etwas verstörend. Vielleicht es ja ein herzzerreißender Thriller mit Mordfall. Eine Frau betrügt ihren Mann und ihr Liebhaber wird von diesem brutal entführt und umgebracht. Den Mord hängt er dann aus Rache seiner Frau an!«
Emilia pfiff anerkennend. Er schaffte es sie immer wieder zu beeindrucken, mit dem was er sich so ausdachte. »Leider nein.«
Er seufzte frustriert und rieb sich über das Gesicht. Sie grinste breit und stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. Sie gewöhnte sich an solche freundschaftlichen Gesten. Luka zwinkerte ihr frech zu und verpasste ihr damit ein neuerliches Bauchkribbeln.
Nachdem sie wieder ein paar Minuten in Schweigen verfielen, musste sie gähnen. Zu dieser Zeit blieb die Sonne besonders lange über dem Horizont und sie hatte die letzten Tage oft in der Nacht das Licht genutzt.
»Du hast jedenfalls auch keinen normalen Bürojob. Sonst könntest du nicht jeden Tag hier sitzen und ich glaube mittlerweile nicht, dass du mit Schreiben dein Geld verdienst. Nicht, weil ich denke, du schreibst schlecht, sondern weil dir dein Buch zu wertvoll ist. Du behütest es wie einen Schatz und gibst kaum etwas preis. Ich glaube deine Geschichte ist sehr persönlich!«, sagte er nachdenklich. Sein Blick ruhte intensiv auf ihr. Er hatte Recht und sie brauchte ihm gar nicht zuzustimmen. Luka wusste in ihrer Mimik zu lesen.
»Wann soll es fertig sein?«, fragte er, erneut das Buchthema aufgreifend.
»Im Winter geht es ins Lektorat. Im Frühjahr soll es erscheinen. Deswegen bemühe ich mich so schnell wie möglich fertig zu werden. Der Plan ist, sobald es zu kalt zum draußen Schreiben ist, fertig zu sein.«
Luka stand seufzend auf und ging ein paar Schritt vor ihr auf und ab. Er schob die Hände in die Hosentaschen und sah sich ziellos um.
»Das bedeutet ich habe nicht mehr viel Zeit es zu erraten. Und danach wird die Bank leer bleiben.«
Dass er dabei enttäuscht klang, ließ sie aufhorchen. Sie klappte den Laptop zu und packte ihn behutsam ein, um von dem seltsamen Gefühl in ihrem Magen abzulenken. Er verharrte die ganze Zeit vor ihr und blieb ruhig. Als sie aufstand und ihre Tasche schulterte, versuchte sie zu lächeln.
»Richtig. Im Winter werde ich nicht mehr hier sein.«
Emilia trat zu ihm und befeuchtete unsicher ihre Lippen, weil ihr ganzer Mund trocken geworden war. »Es hat noch keinen Titel. Aber ich werde dir am Ende verraten, worum es geht.«
Er begann breit zu grinsen und nickte. Sein Blick huschte über ihre Züge, blieb ab und zu an einer Stelle hängen. »Das klingt fair, aber jetzt hat mich der Ehrgeiz gepackt.«
Diesmal gingen sie zusammen, nebeneinander den Weg entlang zurück. Keiner sagte ein Wort. Als sie den Platz mit der Straßenbahn erreichten, blieben sie unschlüssig stehen.
»Ich parke dort hinten. Soll ich dich nach Hause fahren?«, bot Luka an und sie registrierte seine hoffnungsvolle Miene. Sie zögerte einen Moment und dachte ernsthaft darüber nach. Zu ihm ins Auto zu steigen schien ihr zuviel des Guten und sie wollte nicht, dass er wusste, wo sie wohnte. Sie schätzte ihre Anonymität und diese Grenze wollte sie nicht überschreiten.
»Nein Danke. Ich habe es nicht weit.«
Damit ging sie zur Haltestelle und stellte den schweren Rucksack ab. »Und Luka, die nächste Woche wäre ich eher vormittags bei der Bank, wenn es schön ist, weil ich nachmittags etwas anderes vor habe«, rief sie ihm zu. Er blickte zu ihr und nickte lächelnd.
Kapitel 8
»Emotional. Herzschmerz. Blut. Angst. Mut. Drama. Kampf«, wiederholte Luka Emilias Hinweise murmelnd. Sie tippte schmunzelnd weiter. Er ging vor ihr nachdenklich auf und ab und knetete dabei seine Handflächen.
Die Nächte wurden wieder länger und das Sommerwetter kühler. Viele Tage waren vergangen, in denen Emilia fast das Ende ihrer Geschichte erreicht hatte. Die ersten Blätter fielen von den Bäumen, obwohl anderorts die Büsche noch in voller Blüte standen.
»Du machst mich fertig. Das muss ein Bestseller werden«, erklärte er frustriert. Heute marschierte er in Jeans und Hemd vor ihr. Er war gar nicht erst laufen gewesen, sondern direkt zu ihr gekommen. Das Gefühl zu wissen, dass er ins Auto gestiegen war, nur um sie zu sehen gefiel ihr.
»Es ist eine Geschichte über das Leben. Über die Liebe zum Leben«, gab sie ihm einen weiteren Hinweis. Sein verwirrter Blick amüsierte sie so sehr, dass sie wieder loslachen musste.
»Wenn ich hier schon scheitere, dann verrate mir wenigstens deinen Namen. Das Mädchen auf der grünen Bank ist reizvoll geheimnisvoll, aber mein Bruder denkt schon, ich bin verrückt und rede mit einem Kobold im Park«, erzählte er mit gequälter Miene. Dass er mit seiner Familie über sie sprach, schockierte sie. Ihre kurzen Treffen waren ein fester Bestandteil geworden, aber dass er auch außerhalb der Bank über sie nachdachte, verwirrte sie. Es entwickelte sich eine Freundschaft, die anders war, als alles was sie vorher erlebt hatte. Weil immer noch eine gewisse Barriere zwischen ihnen war. Manchmal dachte sie, dass er flirtete, doch einschätzen konnte sie ihn nicht. Seine Aufmerksamkeit genoss sie allemal.
»Den verrate ich dir auch mit Ende meines Buches. Du kannst deinem Bruder ja dazu überreden es zu kaufen. Wer weiß, vielleicht kommt ein blonder, gutaussehender Mann vor, der die Protagonistin bei einer Bank besucht. Und es wird eine große Romanze draus!«
Er blieb stehen und runzelte die Stirn. »Ich komm da nicht wirklich drin vor?«, fragte er ungläubig. Hektisch setzte er sich neben sie und rutschte nahe an sie heran. Er versuchte abermals auf den Bildschirm zu sehen, doch sie klappte ihn zu. So schnell, dass sie fast seine Finger eingeklemmt hätte. »Wer weiß?«, flüsterte sie dicht bei seinem Gesicht. Er brummte, worauf sie kicherte.
»Gib mir eine Chance. Lass mich dich auf einen Kaffee einladen wo es einen Tisch gibt und im Winter eine Heizung. Ich genieße unsere Treffen. Ich kann mich nicht damit abfinden, dass ich nicht mal deine Telefonnummer habe«, sagte er, ohne den Abstand zu vergrößern. Zu ihr gebeugt saß er da und sah sie durchdringend an. Sie konnte seinen Atem spüren und die Gänsehaut sehen, die seinen Hals entlanglief, weil eine kühle Brise über sie hinwegwehte.
Sie seufzte und lächelte ihn müde an. Erst als er sich zurücklehnte und die Hand flach neben sich auf die Bank legte, traute sie sich zu antworten.
»Ich... kann dir nichts versprechen.«
Er schluckte, während er sich vollends aufsetzte. Emilia behielt den Laptop auf dem Schoß, legte aber ihre Hand neben Lukas auf die Bank. Sie saßen wieder einmal stillschweigend nebeneinander und starrten auf das glitzernde Meer hinaus. Es sah jedes Mal anders aus. Mal schäumte die Brandung, mal gurgelte es leise. An manchen Tagen spiegelte sich die Sonne in der glatten Oberfläche oder aber, die Wellen brachten die Boote weit draußen zum Schwanken.
Sie sah so fasziniert in die Ferne, dass sie kurz zusammenzuckte, als Lukas kleiner Finger ihren berührte. Starr blieb sie sitzen, ohne zu wissen wie sie reagieren sollte. Zuerst dachte sie an ein Versehen, doch dann schob sich seine Hand in Zeitlupe, Stück für Stück über ihre. Seine Haut fühlte sich warm und weich an. Die Gänsehaut, die sie vorher noch bei ihm beobachtet hatte, kroch nun über ihren eigenen Körper und versetzte ihre Sinne in Aufruhr. Von Kopf bis Fuß. Solange, bis sie sich entspannte und zuließ, dass er ihre Hand vollends umschloss. Keiner kommentierte es. Auch Freunde berührten sich, umarmten sich und gaben sich Halt. Alles was in diesem Augenblick zählte war, dass sie glücklich war. »Wenn ich das Thema doch noch errate, gehst du mal mit mir Essen«, murmelte er, ohne eine Antwort von ihr zu erwarten.
Kapitel 9
Bunte Blätter wirbelten im Wind über die Straßen und häuften sich in den Ecken an. Die Bäume waren fast ganz kahl und die Tage wurden immer kürzer.
Ende.
Dieses Wort stand seit gestern unter ihrem Manuskript. Emilia saß auf ihrer grünen Bank, dick in einen Mantel eingepackt. Das Gesicht war von einem bunten Wollschal umschlungen. Den Laptop hatte sie nicht mit, denn er war nicht mehr notwendig. Sie hatte es geschafft. All die schlaflosen Nächte. Die Zweifel, ob das überhaupt jemand lesen wollte. Die Angst, wie die Leute reagierten. Zuletzt war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie zwar hoffte, dass es andere Menschen lasen, doch geschrieben hatte sie es für sich. Es war ihr Jahr gewesen.
Starker Wind trieb ein paar Kieselsteine über den Weg vor ihr und sie schob die kalten Finger tief in ihre Manteltaschen.
Diesmal hatte sie seit langem Mal wieder eine genaue Zeit mit Luka ausgemacht. Denn diesmal war es das letzte Mal.
Sie saß mit überschlagenen Beinen auf der Bank und grinste in ihren Schal. Sie fühlte sich frei und zufrieden. Bald ging ihr Buch in den Druck. Sie dachte an all die Stunden, die sie hier gesessen hatte und ein wohliges Gefühl breitete sich in ihr aus.
Als Luka schließlich auf einem Fahrrad näher kam, stand sie augenblicklich auf. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sie hatte es ihm immer gesagt, trotzdem tat es ihr auch weh.
»Hei du«, begrüßte sie ihn schon aus der Ferne und eilte auf ihn zu. Dabei übernahm sie sich und ein kratziger Hustenanfall überkam sie. Sie fühlte sich seit ein paar Tagen nicht gut, doch das trübte ihre Freude über das Ende des Buches nicht. Sie drehte sich weg, bis der nervige Reiz in der Lunge nachließ. Als sie zurück zu Luka sah, bedachte er sie mit einem besorgten Blick. »Das klingt nicht schön. Geht es dir gut?«, fragte er, während er sich zu Fuß näherte. Das Fahrrad hatte er bei einem Baum abgestellt. Sie richtete sich auf und winkte ab. »Ja. Ich bin ein bisschen erkältet. Nichts weiter. Aber deswegen kann ich heute auch nicht lange bleiben. Es ist fertig Luka!«
Er brauchte kurz, ehe er begriff. Seine Reaktion überraschte sie, wie so oft. Er stürmte auf sie zu, umarmte sie und hob sie hoch. Ein paar Mal wirbelte er sie im Kreis, bevor er ihre Beine wieder auf den Boden stellte. Sie lachte quietschend und hielt sich an seinen Schultern fest. Er wiederum legte seine Hände auf ihre. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte er strahlend. Als ihm bewusst wurde, welche Konsequenzen daraus folgten, zog er seine Stirn in Falten. Auf einmal schloss er sie erneut in die Arme, diesmal langsamer, aber nicht minder kräftig. Ihr Gesicht wurde so fest gegen seine Brust gedrückt, dass ein unterdrücktes Husten in ihr hochkroch. Sie atmete seinen Geruch tief ein und legte ihre Arme um seine Taille. Derart nahe waren sie sich noch nie gekommen. »Emilia. Mein Name ist Emilia«, flüsterte sie mit rauer Stimme.
Luka ließ sie los und sah sie ängstlich an. Es fiel ihm sichtlich schwer die richtigen Worte zu finden, daher ergriff sie die Initiative. »Ab jetzt werde ich nicht mehr herkommen. Es tut mir leid, Luka«, erklärte sie. Es fühlte sich nach Abschied an und sie war sich fast sicher, dass es auch ein solcher war. Luka trat einen Schritt zurück und starrte mit verschlossener Miene auf seine Schuhe. Es widerstrebte ihm offenbar das zu akzeptieren. »Keine Chance? Sag mir wenigstens warum.«
Sie seufzte und rieb sich die fröstelnden Oberarme. »Da ist so viel, was in meinem Leben passiert. Ich kann nicht. Die Zeit beim Schreiben war wie eine Therapie und die Momente mit dir haben mir gut getan. Ich danke dir Luka. Für jedes Gespräch und jede stille Minute. Ich habe bis jetzt nicht genau begriffen was da geschehen ist, aber es ist etwas Schönes.«
Er griff sich in den Nacken und nickte zeitgleich monoton. »Und wie lautet der Titel deines Buches? Worum geht es?«
Ein stolzes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. »Einen Titel hat es immer noch nicht. Aber es geht um mich. Das ganze Buch geht um mich.«
Mit diesem Satz setzte sie sich in Bewegung und ließ ihn überrumpelt stehen. »Eine Biografie?«, fragte er überrascht. Emilia lachte auf, drehte sich um, ging aber rückwärts weiter in Richtung des Weges. Er brauchte noch ein paar Sekunden, bevor er sich ebenfalls rasch umwandte und ihr folgte. Schnell holte er sie ein und hielt sie an der Schulter zurück. Sie blieb stehen und gab ihm diese Zeit.
»Sag mir was los ist. Ich habe ein ganz ungutes Gefühl«, murmelte er besorgt. Seine Angst schwang in jedem Wort hörbar mit. Ihr Gesichtsausdruck wurde wiederum weich, weil seine ehrlichen Emotionen sie berührten. Sie nahm seine Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen. Beide waren eiskalt, doch das störte nicht. »Das brauchst du nicht.«
Diesmal ließ er sie gehen, als sie sich löste und wegdrehte. »Gibt es ein Happy End?«, rief er ihr nach.
Emilia drehte sich einmal im Kreis, grinste ihn breit an und zuckte mit den Schultern.
»Ich hoffe es. Ich hoffe es so sehr!«
Kapitel 10
Die Einkaufsstraßen waren immer noch gut besucht. Während sich die Geschäfte langsam leerten, füllten sich die Bars und Restaurants. Durch das warme Wetter trieb es die Finnen nach draußen. So auch Luka. Er war mit Freunden verabredet und schlenderte die letzten Meter vom Parkplatz zur Pizzeria. Er mochte die Stimmung in der Stadt, vor allem wenn sie nach dem Winter langsam erwachte. Den ganzen Tag hatte es geregnet, weshalb der Boden feucht und voller Pfützen war. Nun schien die Spätabendsonne durch die Häuser hindurch und wärmte sein Gesicht. Die Auslagen zierten schon lauter Ostereier und Hasen und kündigten den Frühling an.
Bei einer Buchhandlung blieb er stehen. Der Aufsteller mit dem von seinem Bruder und ihm war nicht zu übersehen. Oft musste er kopfschüttelnd davor stehen bleiben, wie sehr sein Bruder das Ganze inszenierte. Es war mehr Marketing, als Selbstverwirklichung und der Anblick amüsierte ihn. Seine Erfahrungen in ihrem Unternehmen niederzuschreiben hatte Spaß gemacht und dass Menschen Geld bezahlten, um dies zu lesen, erschien ihm seltsam.
Als er gedankenversunken in der Auslage umher sah, entdeckte er etwas, das ihn stutzen ließ. Er musste näher an die Scheibe herantreten und drückte dabei fast seine Stirn dagegen. Wie ein Kleinkind vor einer Spielzeugwarenhandlung. Mit den Fingern berührte er das Glas und hinterließ matte Abdrücke. Zwischen den verschiedensten Literatur-Empfehlungen lag ein spezielles Hardcover, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Das Titelbild bestand aus einer grünen Bank und dem Meer.
Luka zögerte nicht länger und betrat augenblicklich den Laden. Zielstrebig suchte er die Neuerscheinungen ab und hielt bald eines der Bücher in den Händen. Es war sehr dick und schwer. Seine Augen musterten das Foto der Bank, die mit Lichteffekten auf dem Cover in Szene gesetzt wurden.
»Mein erstes Jahr mit fremden Herzschlag«, las er sich selbst leise den Titel vor. Als Autorenname stand unten in der Ecke, fast unscheinbar »Emilia Bom«. Mit zittrigen Fingern blätterte er durch die Seiten. Der Geruch von frisch bedrucktem Papier stieg ihm in die Nase. Andächtig fuhr er über den abnehmbaren Umschlag und schließlich klappte er die letzte Seite des Einbandes auf.
Dort war ihr Foto. Emilia lächelte breit in die Kamera. Das Mädchen auf der grünen Bank.
»Emilia Bom berichtet in ihrer Biografie von dem ersten Jahr, nach ihrer Herztransplantation und wie diese ihr Leben verändert hat. Sie lebt heute in ihrem Geburtsort Helsinki. Dort, wo auch die grüne Bank steht, die zum Mittelpunkt ihres Neuanfangs wurde, als sie ihre Vergangenheit niederschrieb.«
Luka las die Beschreibung mehrmals. Die Gefühle übermannten ihn, doch am Ende blieb nur eine Information hängen. Emilia lebte immer noch in Helsinki. Er hatte sich alles Mögliche vorgestellt und ihr Verhalten analysiert, war aber zu keinem endgültigen Schluss gekommen. Nie wieder hatte er sie auf der Bank gesehen. Emilia war immer ein Rätsel gewesen, das ihm nie aus dem Kopf gegangen war. Nun wusste er, dass es ihr gut ging und sie lebte. Das bedeutete, er konnte sie finden.
Mit einem breiten Lächeln ging er zur Kasse und kaufte sich sein eigenes Exemplar mit dem Vorhaben, es sich persönlich signieren zu lassen.