Eine Zugfahrt ohne Aussichten
Egal wie sehr Aro sich konzentrierte und angestrengt hinausstarrte, seine Augen schafften es nicht den weißgrauen Schleier zu durchdringen. Seine Stirn presste er fest gegen die kalte Scheibe, die unter seinem Seufzen beschlug. Dazu kam, dass die grellen Lampen der Deckenbeleuchtung bei dem düsteren Wetter die Spiegelbilder des Innenraums an die Fenster reflektierten. Er erkannte rein gar nichts von der besonderen Natur. Keine Klippen, gegen die sich das Meer schäumend aufbäumte. Keine dichten Wälder, über denen die Sonne atemberaubende Farben in die Wolken malte. Nichts von den weiten Wiesen, auf denen man die Gräser im Wind wiegen sah. Aro schnaubte erneut. Seine Laune war auf dem Tiefpunkt. Die Migräne manifestierte sich immer deutlicher hinter seiner Stirn. Es pochte bereits schmerzvoll. „Das ist doch halb so schlimm“, flüsterte Mia neben ihm. Das zierliche Mädchen schmiegte sich an ihn, weshalb seine Hand von ihrer Schulter auf den Oberarm rutschte. „Aber wenn wir im modernsten Zug Alaskas sitzen, von dem jeder Reiseführer schwärmt, hätte ich gerne etwas gesehen“, meckerte er frustriert. Sein Blick schweifte in den dichten Nebel hinaus. Nässe setzte sich in Form von winzigen Tröpfchen an die Außenseite der Fenster und verschlimmerte die Sicht zusätzlich. Da half es auch nichts, dass er die teuersten Karten gekauft hatte, um im berühmten Goldstar-Dome zu sitzen. Ein zweistöckiges Abteil, das im oberen Bereich einen 180-Grad-Panoramablick versprach, weil das Dach fast vollkommen glasverkuppelt war. Egal in welche Richtung er sah, in 180 Grad gab es nur verdammten Nebel, der sich über die Landschaft legte. Es hätte viel zu entdecken gegeben auf der Fahrt von Talkeetna nach Fairbanks. Der Weg vom Kaff, in dem nicht mal 1000 Bewohner lebten, in die Stadt zurück dauerte über vier Stunden. Mia gähnte und rieb sich mit dem Handballen über die Augen. Er schielte nach unten und lächelte. Seit wenigen Tagen kannte er die junge blonde Frau. Er wusste nicht, was passierte, wenn sie in Fairbanks ankamen. Sein Praktikum in Alaska war noch nicht einmal zur Hälfte vorbei, damit blieben ihm noch mehr als acht Monate, bevor er zurück nach Atlanta musste.
Als Workaholic hatte Aro nicht viele Touristen-Momente, doch die zwei Wochen Urlaub, in denen er seinen Kollegen in dessen Heimatstadt Talkeetna begleitet hatte, hatten sich gelohnt. Auf dem Hinweg war er mit ihm im Auto gefahren. Daher hatte er sich sehr auf die Alaska-Railroad gefreut. Der blaugelbe Zug mit der Diesellok, der modern und gleichzeitig altmodisch charmant über unzählige Holzbrücken und durch dunkle Felsentunnel ratterte, bot viel. Rotbraune Polstersitzbänke und manuelle Türen waren nicht den üblichen, harten Kunststoffsitzen gewichen. Es gab eine Klimaanlage, sowie Durchsagen über Lautsprecher, die Informationen zur Umgebung machten.
Es war später Nachmittag, trotzdem hätte man ohne die runden LED Leuchten, die im Deckenbalken eingelassen waren, im Innenraum kaum etwas gesehen. Die dunkle Wolkendecke verschluckte jegliches Licht der Restsonne. „Schön, dass du mich mitnimmst“, murmelte Mia neben ihm und gähnte erneut. Die junge Frau lebte in Talkeetna, hatte aber zugestimmt ihn in Fairbanks zu besuchen. Mias Großmutter wohnte in der Stadt, daher bot sich eine gute Gelegenheit, ihn für ein paar Tage zu begleiten. Das frische Liebesglück bekam dadurch einen Aufschub bis zum Abschied.
Sie trug dunkle Ringe unter ihren Augen, lächelte aber zufrieden. Mia war in Aros Leben gestolpert und hatte sofort einen Platz eingenommen. Sie hatte ihn bei seinem Besuch auf einer Geburtstagsfeier kennengelernt. Schnell war der Funken übergesprungen und er hatte sich den Liebesschmetterlingen hingegeben. Er war kein Beziehungsmensch. Mia zu heiraten stand nicht auf dem Plan. Allerdings hatte er nichts gegen kurzzeitige Flirts, die ihm Spaß bereiteten. Aro war kein Arschloch, aber lange hielt er es selten bei einer Frau aus. Es zog ihn stets weiter. Deshalb machte er auch das Praktikum in der Ferne. Er ging davon aus, dass Mia nach wenigen Tagen sowieso wieder nach Talkeetna zurückging. Trotzdem genoss er die Zeit mit ihr und das Gefühl, wie sie sich eng an ihn drückte.
Dies kam aber nicht gegen die Kopfschmerzen an, die schlimmer wurden. Er seufzte und schaute sich im Abteil um. In der Vorsaison reisten nicht viele Menschen durch Alaska. Die Reihen vor und hinter ihnen blieben leer. Ganz vorne saß eine Familie mit zwei Teenagerbrüdern. Sie sahen genauso missmutig in die bedrückende Finsternis hinaus. Auf der linken Seite hielt ein Rentnerpärchen verliebt Händchen. Außer dem leisen Brummen, das die Räder auf den Schienen verursachten, hörte man nur Gemurmel. Mias Finger schoben sich unter seinen grauen Sweater und Aro genoss die Gänsehaut. Das vertrieb die Migräne zwar nicht, tröstete aber ein wenig. Als die Frau in seinem Arm nochmal gähnte, lachte er leise auf. Sie kniff ihn grinsend oberhalb des Bauchnabels. „Das ist deine Schuld“, warf sie ihm vor. Es tat ihm überhaupt nicht leid. Ihre spontane Romanze hatte wild und leidenschaftlich begonnen. Aus dem erholsamen Urlaub im Outback, waren viele heiße Nächte mit seiner neuen Bekanntschaft geworden. An regelmäßiges Ausschlafen war nicht mehr zu denken gewesen. Er war genauso erschöpft und brauchte nach diesem Urlaub dringend Urlaub. Doch bereute er keine Sekunde davon, denn Mia war fantastisch. Ihre langen, blonden Haare wellten sich über ihre Schultern. Ihre Figur hatte alles, was sich Aro wünschte und die großen, grünen Augen machten ihre Optik perfekt.
Er ließ seinen Kopf gegen das Fenster fallen und schloss die Augen. Das Pochen mischte sich mit dem vertrauten Ziehen an den Schläfen. Leichter Schwindel gehörte ebenfalls zu den Symptomen, die er allzu gut kannte. Aro hatte immer Schmerzmittel dabei, um dieser lästigen Migräne Herr zu werden. Die lagen aber in seinem Rucksack, im hinteren Teil des Abteils. Er wollte nicht aufstehen und Mia wecken. Sie döste an seiner Seite und mit jedem Atemzug drang ihr blumiges Parfum in seine Nase.
Plötzlich stieg eine seltsame Unruhe in ihm auf. Sein Puls wurde schneller und ein kalter Schauer kroch über seinen Nacken. Ein Knarzen ließ ihn aufsehen. Direkt in der Reihe vor ihnen nahmen zwei Frauen Platz. Aro fühlte sich mit einem Schlag nicht mehr müde. Seine Sinne waren wach und er wusste nicht was auf einmal nicht stimmte.
Alarmiert starrte er auf die beiden Hinterköpfe vor sich. Eine von ihnen hatte kurze, schwarze Haare und die andere rote lange Locken. Die Frau am Fensterplatz warf ihre Haare schwungvoll mit einer fließenden Handbewegung über die Schulter. Sie drehte sich übertrieben erschrocken um und sah Aro mit blitzend grünen Augen an. „Entschuldigung. Habe ich dich erwischt?“, fragte sie freundlich, mit einem breiten Lächeln. Er holte langsam Luft und atmete gegen das rasant schlimmer werdende Stechen in seinen Schläfen an. „Nein. Alles in Ordnung.“ Seine unergründliche Unruhe verschlimmerte sich und er wurde nervös, weil sich auch die Härchen auf seinen Armen aufstellten. In seinem Augenwinkel schimmerte ein dumpfes Wetterleuchten über ihnen. Der dichte Nebel tauchte den Blitz in ein schummriges Licht. Ohne Donner platschten die ersten dicken Tropfen gegen das Glaskuppeldach. Nun drehte sich auch die andere Frau um. Die mit den schwarzen Haaren hatte ein rundlicheres Gesicht und deutliche Sommersprossen auf den geröteten Wangen. Ihre vollen Lippen formten sich ebenfalls zu einem einnehmenden Lächeln.
Irgendetwas an den beiden ließ Aro innehalten. Sein Nacken kribbelte schmerzhaft. Die beiden waren durchaus attraktiv. Sehr attraktiv. Schlank und hübsch. „Ach ihr seid ein süßes Paar. Seid ihr aus Talkeetna?“, fragte die Schwarzhaarige mit überraschend tiefer Stimme. Ihre dunklen Augen huschten über Aros Gestalt. „Äh... Ich komme aus Fairbanks“, antwortete er irritiert. Die Augen der Rothaarigen verschmälerten sich, ehe sie ihn wieder freundlich angrinste. „Ich bin Carol. Das ist Susy“, stellte jene mit den langen Locken sich vor. „Ist sie deine kleine Schwester?“, fragte Susy mit zweimal zuckenden Augenbrauen sofort hinterher. Aro schluckte und sah auf Mia hinab. „Nein“, sagte er kurz angebunden. Er hatte keine Lust sich mit Fremden zu unterhalten. Schon gar nicht, wenn diese eine derart dunkle Aura ausstrahlten. Er war sich sicher, dass das seltsame Gefühl in ihm durch die beiden hervorgerufen wurde. Daher erweckten sie sein Interesse. Seine Instinkte rieten ihm dennoch, sich fernzuhalten. „Schade. Du bist scharf“, gab Susy mit einem Seufzen von sich. Aro blinzelte verwirrt. Er war fast dreißig, trieb regelmäßig Sport und verwendete ab und zu Haargel, um seine kurzen blonden Haare in Form zu bringen. Als scharf hatte ihn noch nie jemand bezeichnet. Er war unauffällig.
„Ich mag deinen Style. Ward ihr auf Turtelurlaub in Talkeetna? Kommt ihr beide aus Fairbanks?“, fragte Susy weiter nach. Aro schüttelte den Kopf. „Ich wohne dort. Habe wen besucht“, antwortete er, um höflich zu bleiben. Seine Skepsis verstärkte sich. Die beiden vor ihm sahen nicht aus wie Touristen. Sie schenkten den Kuppelfenstern keine Beachtung. Nur ihm. Sie hätten sich überall hinsetzen können. Es gab noch genügend freie Plätze in dem Luxusabteil. Sie hatten sich dennoch direkt vor sie gesetzt.
Carol trug eine schwarze Lederjacke mit silbernen Nieten. Immer wenn sie ihre Position änderte, knisterte sie. Susy wandte sich ihm zu. Sie hatte ein dunkelrotes Karohemd an, dessen oberste Knöpfen offen waren. Der tiefe Ausschnitt bot einen einladenden Anblick. Die Schwarzhaarige bemerkte sein Starren, wodurch sich ihr Lächeln verbreiterte. Carol schien hingegen das Interesse bereits wieder zu verlieren. Sie setzte sich normal hin und schielte über ihre Schulter. „Ich komme auch aus Fairbanks. Hast du mal Lust etwas zu unternehmen?“, fragte Susy keck. Aro war überfordert. Die Kopfschmerzen lenkten ihn ab und wurden schlimmer. Mittlerweile begann sein Sichtfeld gefährlich zu verschwimmen. Ein Anzeichen dafür, dass er dringend etwas einnehmen sollte. „Ich... äh...“, stotterte er mit trockenem Mund. Hilfesuchend sah er kurz aus dem Fenster. Sie überquerten eine Landschaft, die der graue Nebel verschluckte. Die Wassertropfen klatschten nun deutlich gegen das Glas und lieferten sich ein Wettrennen entgegen der Fahrtrichtung. Am Horizont leuchteten immer öfter Blitze auf, die die aufziehende Dunkelheit über Alaska nicht verdrängten. „Hier ist meine Nummer. Wenn du mal Lust auf Spaß hast; ich kann schweigen wie ein Grab“, sagte sie. Susy rutschte ein Stück zur Seite und zog eine Visitenkarte hervor. Ohne dass Aro draufgesehen hatte, hob sich seine Hand automatisch. Unkontrolliert wog er trotz seinem Widerwillen ab, ob sich das Angebot lohnte. Aus reiner Gewohnheit zog er es unterbewusst in Betracht. Es lag in seiner Natur, daher betitelte er sich selbst als beziehungsunfähig. Das mulmige Gefühl, das ihn immer noch beherrschte kam dagegen nicht an. Sie reichte ihm das Stück Papier über die Lehne hinüber.
Fast hatten Aros Finger es erreicht, als Mia ihm die Hand mit einem lauten Klatschen wegschlug. Er schrie erschrocken auf, zuckte zusammen. Die Haut auf dem Handrücken begann sofort zu brennen. Ertappt sah er in Mias entsetztes Gesicht. Ihre Augen waren weit aufgerissen und dazwischen bildete sich eine Zornesfalte. „Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du flirtest mit einer anderen Tussi, während ich neben dir sitze?“, keifte sie ihn angriffslustig an. Er wollte widersprechen. Sich entschuldigen. Stattdessen griff er erneut nach der Karte und steckte sie sich zwischen Zeige- und Mittelfinger. Mia schnaubte und sprang auf. Sofort wurde ihm klar, wie absurd und respektlos er sich verhielt.
In seinem Kopf hämmerte es mittlerweile wie verrückt. Allein das sanfte Vibrieren des Zuges unter sich, verschlimmerte es. Er wollte Mia nicht verärgern, denn er mochte sie sehr. Es tat ihm sofort leid und er hasste sich dafür, dass er die Karte immer noch festhielt. Mia stand im engen Gang, die Hände in die Taille gestemmt. „Ich wollte nur höflich sein“, sagte er und sah schuldbewusst zu ihr hoch. Zumindest versuchte er das. „Das wirst du bereuen!“, schrie Mia ihn wütend an. Diverse Köpfe der anderen Passagiere drehten sich genervt in ihre Richtung. Er wollte reagieren, doch etwas in ihm hielt ihn zurück. Es war Susys Blick. Sie leckte sich mit der Zunge über die vollen Lippen und fixierte ihn. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie zu ihrem Angebot stand. „Ich wollte euch keinen Stress bereiten. Aber wenn deine Kleine dich direkt freigibt, ich hole mir einen Drink im Bordrestaurant“, bestätigte sie seine Vermutung. Aro verstand gar nicht was hier passierte. Es war ihm unmöglich das zu sagen und zu tun, was er eigentlich wollte. Mias Kopf lief vor Zorn rot an. Das nahm er aber nur wahr, weil sein Blick sie schweifte, als er Susys Abgang zusah. Mit schwingenden Hüften marschierte sie in ihren Lederstiefeln nach hinten zur Tür. Carol saß stumm an ihrem Fensterplatz und beobachtete sie. Und ihn. Ihre Augen waren wieder so seltsam zusammengekniffen, als wartete sie auf etwas Bestimmtes. Mia schnaufte heftig, sodass ihr Atem selbst über die Entfernung zu ihm rüber wehte. Sie trat an ihn heran, packte ihm am Kragen und funkelte ihn zornentbrannt an. „Du wirst das bereuen. Das verspreche ich“, wiederholte sie so kalt, dass ihm eine neue Gänsehaut über den Rücken lief. Die blonde Frau machte auf dem Absatz kehrt und rauschte davon.
Sein Körper setzte sich in Bewegung. Ob er seiner neuen Flamme Mia oder der verführerischen Susy nachlaufen wollte, war ungewiss. Ihm war übel. Und schwindlig. Die Migräne forderte seine volle Willensstärke, sich aufrecht zu halten. Er kannte diesen Zustand, konnte aber nichts dagegen tun. Zwei Schritte schaffte er, als sich plötzlich eine Hand um seinen Unterarm legte. Erstaunlich fest wurde er zurückgerissen. Carol erhob sich zeitgleich mit ihm. Sie fixierte ihn und sah ihn mit diesen riesigen, unnatürlich grünen Augen an. „Das solltest du sein lassen“, sagte sie. Verwirrt blinzelte Aro. Das leichte Rucken des Zuges reichte aus, ihn jetzt zum Schwanken zu bringen. „Lass mich los“, brummte er. Mittlerweile sahen die anderen Gäste verängstigt und verärgert zu ihnen. „Du willst das nicht sehen“, flüsterte Carol und trat an ihn heran. Ihr Gesicht kam seinem unangenehm nahe. Sie legte ihren Lockenkopf schief und holte tief Luft. Aro begann zu schwitzen und hielt ihrem Blick stand. Er wusste, dass hier etwas nicht stimmte. Carol beugte sich noch ein paar Zentimeter weiter nach vorne, holte Luft und dann riss sie schockiert die Augen auf.
Erschrocken trat er zurück und löste sich von ihr. Er spürte die Nägel der Fremden über seine Haut kratzen. Viel schlimmer war das Stechen in seinen Augen. Das Licht tat so weh, dass sie tränten. Er schwankte voran, die Tür des Abteils anvisiert. Sein Sichtfeld verschmälerte sich mit jedem Schritt. Die Ränder rutschten weiter zusammen und die Konturen verschwammen. Er wusste was das bedeutete. Wenn er sich in so einem Zustand nicht hinlegte, kippte er um. Mühselig kämpfte er sich trotzdem voran. Er klammerte sich mit schweißnassen Fingern an die roten Stofflehnen der Sitzreihen. Der schwarze Gummiboden unter ihm begann zu rotieren und der Regen über ihm schwoll zu einem ohrenbetäubenden Trommeln an. Er schaffte es bis zur Treppe, die in die untere Ebene führte, auf der sich die normalen Abteile befanden. Die erste Stufe berührte sein Fuß, als der stechende Schmerz und gleißende Blitze vor seinen Augen ihn ins Nichts beförderten.
Normalweise wachte er nach so einem Blackout in seinem Bett oder auf dem Sofa auf. Diesmal nicht. Bereits nach wenigen Sekunden, in denen er ins Jetzt zurückkehrte, wusste er, dass etwas falsch war. Es tat fast alles weh. Ihm war brütend heiß und er schwitzte. Außerdem waren seine Hände nass. Bei den ersten Bewegungsversuchen spürte er die Feuchtigkeit. Er kauerte verrenkt auf engstem Raum. Seine Füße klemmten irgendwo verdreht und angewinkelt. Das Einzige was nicht mehr weh tat, war sein Kopf. Ächzend öffnete er hektisch blinzelnd die Augen. Er hatte Mühe sich zu orientieren und absolut kein Zeitgefühl mehr. Wenn es nach den Regeln der Physik ging, hätte Aro am Ende der Treppe aufwachen müssen. Das war offensichtlich nicht der Fall. Hinter ihm befand sich eine Toilette, die ihm ins Kreuz drückte. Sein Gesicht ruhte passend dazu an einem grauen Kunststoffwaschbecken in Augenhöhe. Er realisierte, dass er auf dem Boden der Zugtoilette lag. Und er war nicht allein. Da waren fremde Beine. Lederstiefel und schmale Knie, die in einer blauen Jeans steckten. Aro hob den Kopf an. Auf dem WC saß eine Frau. Das erste, was ihm ins Auge fiel, war das rote Karohemd. Obwohl ihm immer noch die Erinnerung fehlte was passiert und wie er hier hergelangt war, erkannte er Susy sofort. Die kurzen schwarzen Haare und das üppige Dekolletee. Die klaffende Fleischwunde darin war neu. So, wie das viele Blut. Überall befleckte es ihre Kleidung. Aro begann panisch zu zappeln. Er keuchte auf und schnappte gleichzeitig nach Luft, wobei er sich verschluckte und hustete. Ohne den Blick von Susy abzuwenden, strampelte er mit den Beinen, um frei zu kommen. Seine Schuhe rutschten auf dem nassen Boden aus. Mit rasendem Puls blickte er nach unten und erstarrte. Es war keine Wasserpfütze. Auch kein Urin tropfte vom Toilettensitz hinab. Es war dunkelrotes Blut, das sich stetig sammelte. Seine Füße verschmierten es in dicken Schlieren auf dem Boden, als er hysterisch versuchte hochzukommen. Er hatte nicht bemerkt, dass er in der winzigen Kabine wieder um sein Leben strampelte. Als er Halt am Waschbecken suchte, um sich hochzuziehen, registrierte er, dass auch seine eigenen Hände besudelt waren. Jeder einzelne Finger war davon benetzt. Aro flippte aus. Er schlug um sich und verteilte die rote Substanz überall. Sein Gehirn scheiterte daran, zu verstehen was hier passierte. Als er es schaffte sich keuchend und röchelnd auf die Knie zu rappeln, hob er den Blick zu Susy. Ihr Kopf lag zur Seite gesunken. Die schönen Lippen waren leicht geöffnet und ein feiner Rinnsal Blut floss aus ihrem Mundwinkel, tropfte auf die aufgerissene Brust und sickerte in den Saum des Shirts. Ihre Augen waren weit aufgerissen und starrten kalt ins Leere. Sie atmete nicht mehr. Das war Aros erster rationale Gedanke. Susy konnte gar nicht mehr atmen, weil neben dem zerfetzten Fleisch auch noch ein Messer in ihrer Brust steckte. Genau da, wo eigentlich ihr Herz schlagen sollte. Doch es war durchbohrt und pumpte nie wieder. Ein schwarzer Metallgriff ragte anklagend hervor, versenkt bis zum Anschlag. Das Blut quoll heraus, als gäbe es kein Ende. Er konnte sehen, wie sich der Stoff an ihr immer weiter vollsaugte.
Aros Hände schwebten zitternd vor ihm in der Luft. Er konnte sich kaum noch bewegen. In der Kabine floss so viel Blut aus dem zierlichen Körper der Frau, dass er es riechen konnte. Der metallische Geschmack, der sich auf seine Zunge legte, ließ ihn würgen. Er wollte schreien oder weinen, aber nichts davon geschah. Er kniete vor der Leiche. Seine Augen hörten endlich auf irre durch die Gegend zu zucken, sondern wagten es genauer hinzusehen. Das offensichtliche Messer in ihrer Brust war nicht die einzige Ursache, für die Lache unter ihm. Unzählige Kratzer hatten ihr Hemd und ihre Brust zerrissen. Das klaffende Loch an ihrem seitlichen Hals war genauso tödlich gesetzt wie Klinge in ihrem Herzen. Aro krampfte am ganzen Leib. Er versuchte zu rekonstruieren, wie das alles passieren konnte. Er war ohnmächtig geworden. Er hatte auch schon früher dabei Blackouts gehabt. Vor allem wenn er viel trank und feierte, erinnerte er sich oft nicht mehr an seine Taten. Doch das alles erklärte nicht, wie er plötzlich mit einer frischen Leiche hier landen hatte können. Dass sie frisch war, merkte er an der Wärme des Blutes. Erneut würgte er.
Bevor er sich tatsächlich unters Waschbecken übergab, stand er endlich auf. Seine Knie waren gefährlich weich. Die Motorik funktionierte ganz von selbst, als er die unverschlossene Tür aufdrückte. In stockenden Schritten taumelte er auf den Gang hinaus und fiel direkt gegen die gegenüberliegende Wand. Seine Hand schlug schmatzend an die Fensterscheibe und hinterließ einen verschmierten, blutigen Abdruck. Die Regentropfen, die dahinter vorbeirannen schimmerten rot auf.
Er wollte nach Hilfe rufen. Kein Wort kam ihm über die Lippen. Außerdem wurde er sofort wieder von den Beinen gerissen. Der Zug fuhr Loopings wie in einer Achterbahn. Zumindest fühlte es sich so für Aro an, als Carol ihn mit sich zerrte. Er sah ihre roten Locken umherwirbeln und knallte dann hart mit dem Steißbein auf dem Boden auf. Sie packte ihn am Shirt, sodass es sich würgend um seinen Hals zog, und zerrte ihn weiter. Er schlug um sich, doch seine blutnassen Hände rutschten immer wieder ab. Dabei hinterließen sie Abdrücke an den Wänden, einem Feuerlöscher und auf dem Boden. Seine Füße zogen eine Spur, weil er wild strampelte. „Das war dein letztes Mal“, zischte Carol irgendwo über ihm. Sie zerrte ihn die Stufen hoch, zurück in das Abteil mit dem Glasdach. Sein Kopf donnerte nicht nur einmal gegen die Kanten der Stufen. „Lass mich los“, keuchte er angsterfüllt.
Kurz bevor er wieder das Bewusstsein verlor, weil sie ihm den Schädel einschlug, kamen sie oben an. Sie ließ ihn röchelnd liegen. Er krümmte sich und wischte sich Schweiß und Tränen aus dem Gesicht, wobei er Susys Blut darin verteilte. „Ich töte dich“, murmelte Carol monoton. Er sah, wie sie an den Platz zurückging, an dem sie sich das erste Mal getroffen hatten und rollte sich auf den Bauch. Blinzelnd starrte er nach vorne. Am Ende des Ganges lagen weitere Gestalten. Einer der Teenagerbrüder war vom Sitz gefallen. Er bewegte sich nicht. Aro stemmte sich auf die Ellenbogen und unterdrückte einen Schrei. Auch das Rentnerpärchen saß zusammengesunken, mit geschlossenen Augen ineinander gefallen da. „Was hast du mit ihnen gemacht? Hast du sie auch umgebracht?“, schrie er die Fremde an. Von Anfang an hatte er ein ungutes Gefühl bei den beiden Frauen gehabt. Diese unerklärliche Ahnung. Carol musste wahnsinnig sein. Eine irre Mörderin, die im Zug Amok lief.
„Du hast sie einschlafen lassen. Ich hätte es besser wissen müssen“, antwortete die Frau mit so ruhiger, kalter Stimme, dass Aro erneut zu zittern begann. Sie bückte sich und griff nach etwas auf dem Boden. Als sie sich wiederaufrichtete, funkelte ein riesiges Messer auf. So lang, dass es Aro eher an ein Kurzschwert erinnerte. Ein schwarzer Griff, genau wie jener, der aus Susys Brust herausragte. „Du hast deine Freundin umgebracht“, wisperte er entsetzt. Carols Kopf lag schief und der Ausdruck in ihren Augen erschreckte ihn mehr, als das Messer. Ihre Lippe war aufgeschlagen und auch über ihrer Wange klaffte eine tiefe, frisch blutende Wunde. Susy musste sich tapfer gewehrt haben. Aro versuchte hochzukommen und brauchte drei Anläufe dafür. Stolpernd wich er zurück, wohl wissend, dass hinter ihm erneut der Treppenabsatz kam. „Ich werde dich ausweiden“, sagte Carol dunkel. „Du hast meine Schwester ermordet“, setzte sie nach. Aro dachte sich verhört zu haben. Sie redete wirr. Mit großen Schritten näherte sie sich ihm, mit der Klinge auf ihn zeigend. „Lass die Scheiße. Ich habe nichts getan“, flehte er. Er war unschuldig und hatte keine Ahnung, wie er da reingeraten konnte. Niemals hätte er jemanden umbringen können. Er war ein frischer Uni-Absolvent. Kein Mörder.
Ihn hätten die Stufen gestoppt, aber es war Mia hinter ihm. Ihr plötzliches Erscheinen erschreckte ihn, sodass er sich umdrehte und in die andere Richtung sprang. Näher an Carol ran, die ihre Chance nutzte. Sie riss ihn an der Schulter rum und rammte ihn in einer einzigen Bewegung gegen die Fensterscheibe zwischen zwei Sitzreihen. Sein Schädel schmetterte gegen das Glas. Ihr Knie drückte sie zielgenau tief in seinen Bauch, sodass seine Eingeweide komplett zu verrutschen schienen. Mit der einen Hand drückte sie ihm die Kehle zu und die andere hielt den Messergriff umklammert. So fest, dass ihre Knöchel weiß hervortragen. Die Spitze verharrte wenige Zentimeter vor seinem Brustkorb. Das war nur möglich, weil er es geschafft hatte, einen Arm zwischen sich und dieser Irren zu bekommen. Mit all seiner Kraft stemmte er sich dagegen. Soviel Muskeln hatte er sich nicht zugetraut. Und ihr auch nicht. Er schnaufte vor Anstrengung, doch Carol schien nicht mal mehr zu atmen. Sie starrte ihn einfach nur an und presste sich mit ihrem Körpergewicht gegen das Messer.
Hinter ihr schlurfte Mia vorbei. Ganz langsam. Wie paralysiert. Seine Augen zuckten hektisch zwischen ihrem blassen, und Carols wutverzerrtem Gesicht hin und her. Mias Hände hielt sie zitternd vor sich. Sie waren genauso blutdurchtränkt wie seine. Ihre Augen standen weit offen. Auch ihre Kleidung war aufgerissen und rot durchnässt. Ob sie schwer verletzt war, konnte er nicht erkennen. Mia war mitten drin in dieser Katastrophe. „Was habe ich getan?“, hauchte sie, kaum hörbar. Und dann tauchte ein fürchterlicher Gedanke in ihm auf.
Mia.
Es musste Mia gewesen sein. Sie war so wütend gewesen. So eifersüchtig auf Susy. Er kannte diese Frau überhaupt nicht. Sie war der Fremden vorhin nachgelaufen und dann hatte das Grauen begonnen. Er verstand einfach nicht wieso ihnen niemand zu Hilfe kam oder den Lärm bemerkte.
„Deine Augen!“, kreischte Mia auf einmal so schrill, dass er das Gefühl hatte das Kuppeldach erzitterte. Er war immer noch damit beschäftigt Carols Messer von seinem Herzen fernzuhalten. Sie war stark. Viel zu stark für eine kleine Frau. Ihr Knie sandte stechende Schmerzen in seinen Bauch. Er fühlte wie seine Muskeln nachgaben und zu zittern begannen. „Wir haben einen Fehler gemacht“, knurrte sie frustriert. Ihre Stimme grollte unmenschlich tief und rau. Sie starrte ihn hasserfüllt an und dabei färbten sich ihre Augen schwarz. Wie Tinte floss die Dunkelheit von außen nach innen und überdeckte das tiefe Grün darin, bis sie vollkommen von dem Schatten ausgefüllt waren. Ihre roten Locken strichen über seine Wangen, während sich ein böses Lächeln auf ihren Lippen ausbreitete. „Ich dachte das Mädchen ist es, weil es so seltsam nach unserer Art roch“, setzte sie bitter schluchzend hinterher. Aro konnte nicht in diese unmenschlichen Augen sehen. Er wich ihrem Blick aus und schnappte erneut nach Luft. Nicht nur ihr Gesicht war entstellt, sondern auch ihre Hände. Die langen Finger hatten sich zu grauen Klauen verformt. Um den Griff des Messers und auch an seinem Hals. Die Spitzen bohrten sich schmerzhaft in sein Fleisch.
„Was zum Teufel bist du?“, brüllte Mia. Sie stand bibbernd im Gang, hielt sich die blutverschmierten Finger vor den Mund und weinte.
„Nicht der Teufel Kleines. Ein Inkubus. Er ernährt sich von der Lebensenergie schlafender Menschen. Ein Dämon, der seine Beute nachts aussaugt, bis diese vorzeitig an Schwäche verenden.“
Er.
Aro verstand es nicht. Carol sprach nicht, als würde sie von sich selbst reden. Die Spitze der Klinge näherte sich ein paar weitere Millimeter. Carols Miene verzog sich weiter zu einer Fratze. „Es war ein Fehler in unserem Revier zu wildern. Du hast unsere Deckung in Gefahr gebracht und dich wie ein wildes Tier benommen. Du hast letzte Woche auf einer Party eine junge Frau komplett leer gesaugt. Sie ist am nächsten Tag gestorben und hat die Polizei auf uns aufmerksam gemacht. Du hättest niemals nach Talkeetna kommen sollen und dich an unserer Beute vergreifen dürfen.“ Aro erinnerte sich sofort an die Feier. Die Geburtstagsparty seines Arbeitskollegen. Sie hatten sich alle betrunken. Und er hatte Mia kennen gelernt.
„Ich habe noch nie ein männliches Exemplar unsereins getroffen. Deinen Geruch kannte ich noch nicht und das hat meiner Schwester das Leben gekostet“, zischte Carol.
Mehr Zeit bekam Aro nicht. Keine weiteren Erklärungen wurden ihm entgegengespuckt. Carol hatte genug vom Kampf. Sein Blick glitt erschöpft nach oben zum Kuppeldach. Der Regen prasselte heftig auf das Glas und er sah sein Spiegelbild. Carol, wie sie ihm das Messer langsam, aber sicher in die Brust rammte. Er sah auch seine Augen. Zwei schwarze Flecke in seinem aschfahlen Gesicht. Sie hatten Recht. Er war ein wildes Tier.
Sowie das Messer Haut, Fleisch und Muskeln durchschnitt, legte sich ein Schalter in ihm um. Eine Barriere in seinen Gedanken zersprang spürbar in tausend Stücke. Zerschmettert von der Klinge. Dieses Gefühl übertünchte all den Schmerz. Er sah Bilder. Erinnerungen. Dinge, die er getan hatte, ohne es zu wissen. Allen voran die aktuelle Nacht.
Er war auf der Treppe zusammengebrochen und auf halber Höhe liegen geblieben. Carol war sofort bei ihm gewesen und wollte ihn umbringen. Sie hatte es zu spät erkannt, als sie seinen Duft wahrgenommen hatte. Dann gellte Mias Schrei durch den Zug. Weit weg, aber eindeutig ihre Stimme. Sein Instinkt übernahm das Ruder und er ließ es wie immer zu. Carol griff unter ihre Lederjacke, um nach ihrer Waffe zu greifen. Einen Inkubus konnte man am besten mit einem Stich ins Herz töten. Er war schneller. Seine Hand schoss geübt nach vorne an ihre Kehle. Er drückte mit seinen Klauen zu, bis ihr nur noch röchelnde Geräusche entkamen. Das Messer fiel zu Boden. Hätte er sie sofort getötet, wäre das alles vielleicht anders verlaufen. Seine Natur setzte diesen einen Duftstoff frei. Seine Poren sandten ihn durch das ganze Abteil und vermutlich noch weiter. Hinter ihnen fiel jemand zu Boden. Die Passagiere, die gegen sein Gift nicht immun waren. Carol war wie er. Ein Sukkubus, sein weibliches Gegenstück.
Mia schrie erneut. Seine Beute durfte niemand anfassen, außer ihm. Und Mia war seine Beute. Sie war noch nicht bereit von ihm freigegeben zu werden. Carol schickte er in dieselbe Ohnmacht, die ihn immer in das verwandelte, was er eigentlich war. Er sprang auf, hetzte in den Gang hinter der Tür. Susy kam ihm entgegen. Ebenfalls mit diesen schwarzen Augen im Gesicht. Zwei Sukkubus auf der Suche nach ihren Rivalen. Ihm. Sie hatte Mia offensichtlich angegriffen im Verdacht sie sei eine von ihnen, weil sein Geruch an ihr hing. Nun stellte sie fest, dass sie einen Fehler begangen hatte. In ihrer Hand hielt sie das Messer, welches er ihr wenige Sekunden später nach einem Kampf in der Toilette in die Brust rammte.
Tränen traten in seine Augen, weil er das erste Mal fähig war, gemeinsam mit dem Dämon in ihm, diese Dinge zu betrachten. Nicht nur den heutigen Mord. Viele andere.
Unzählige Mädchen und Frauen, die schlafend vor ihm lagen, währen er aß. Nicht ihre Körper, aber ihre Energie. Ihre Seele. Er spürte, wie er diese aus ihnen heraussaugte, ohne dass seine Opfer etwas mitbekamen. Er tötete sie mit jedem ihrer Atemzüge ein bisschen mehr. Er zog weiter, bevor sie kurz danach einem Herzinfarkt erlagen. Aro wusste auf einmal, was er war. Er wusste, dass er den Rest seines Lebens weiter töten würde, um zu leben. Diese Gewissheit machte es ihm einfach, in dieser Nacht auf der Alaska Railroad zu sterben. Er wollte kein Monster sein. Mias größter Fehler war gewesen zu früh wieder aufzuwachen. Ob sie diese Fahrt im Zug überleben sollte war ungewiss. Aro würde jedenfalls niemals in Fairbanks ankommen.