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HoerprobeAngelika Süss
00:00 / 10:27

ET: 5.11.2020

Der erste Atemzug nach dem Aufwachen fühlte sich gut an. Ein tiefes und entspanntes Luftholen, dazu kribbelte es in meinen Fingerspitzen. Ich lag auf dem Bauch, das Gesicht fest in ein weiches Kissen gepresst und die Arme darunter verschränkt. Wie jeden Morgen. Allerdings …
Plötzlich glitten meine Gedanken aus der Traumwelt heraus und prallten in die Realität, als hätten sie mit 180 Stundenkilometern einen Betonpfeiler gerammt. Das Blutbad meiner Synapsen lag auf dem Highway verstreut und ich stöhnend dazwischen. Jemand lief in meinem Kopf Amok, mein Rachen kratzte und meine Zunge fühlte sich an, als hätte ich über eine nasse Katze geleckt. Widerwärtig.
Ich kämpfte gegen die Übelkeit an und presste die Augen zusammen, doch da begann sich das schwarze Nichts um mich wild im Kreis zu drehen. Nach Halt suchend krallte ich die Finger in die Matratze und riss die Augen endgültig auf.
Dieses schneeweiße Bettzeug war definitiv nicht meins. Etwas sagte mir, dass ich nicht hier sein sollte. Dieses typische Samstag-Gefühl, wenn man mitten in der Nacht aufwachte, keine Ahnung hatte, wie man hieß, welcher Tag war und ob man zu spät zur Arbeit kam. Mein Name war Hannah. Mehr konnte ich akut nicht rekonstruieren.


Ich rieb mir über die Augen und sah mich um. Auf dem schwarzen Nachtkästchen lag ein bunter Papier-Flyer. MGM Grand Hotel and Casino stand in grauen Buchstaben oben drauf und als hätte mir jemand mit einem kalten Waschlappen ins Gesicht geschlagen, kehrte schlagartig eine drängende Information in mein Gedächtnis zurück. Ich war in Las Vegas. In Amerika! Zusammen mit meiner besten Freundin, um meinen fünfundzwanzigsten Geburtstag zu feiern.
Ich rollte mich auf den Rücken und strampelte mir die Decke von den Füßen. Meine Beine fühlten sich an wie nach einem Marathon und von irgendwoher drang ein Gluckern an meine Ohren, während ich mich in dem riesigen Hotelzimmer umsah. Links von mir erhob sich eine Glasfront vom Boden bis zur Decke, die Gott sei Dank mit weißen Stoffbahnen verhangen war. Selbst das gedämpfte Licht machte mich fertig.


Stöhnend senkte ich den Blick und runzelte überrascht die Stirn. Ich trug ein ausgewaschenes T-Shirt mit ACDC-Aufdruck. Dieses entstammte definitiv nicht meinem Kleiderschrank. Die Boxershorts genauso wenig. Mein Herz begann zu rasen. Wenn ich mir unbekannte Unterwäsche trug, wer hatte dann gerade meine an?
Plötzlich hellwach tastete ich mich ab. Zum Glück war noch alles dran. Ich schien nicht entführt worden und einem Organhändler in die Arme gefallen zu sein.
Etwas beruhigt sah ich mich genauer um. Diese riesige Suite war eindeutig nicht unsere, Louisa und ich hatten nur ein kleines Doppelzimmer gebucht. Außerdem wäre Louisa nicht einfach oben ohne aus dem Bad gekommen.
Erschrocken sah ich zurück zur geöffneten Badezimmertür. Ich hatte nicht mal gehört, dass das Wasser nicht mehr rauschte!
Ein blonder Mann trat einen Schritt in die Suite hinein und rieb sich mit einem Handtuch die Haare trocken. Die blaue Jeans hing tief auf seiner Hüfte. Schockiert musterte ich ihn. Die trainierte Brust, das sanfte Lächeln und die hellblauen Augen.


Panik. Flucht! Das waren die einzigen zwei Gedanken, die mir durch den schmerzenden Kopf schossen.
»Guten Morgen«, sagte er mit rauer Stimme, die sich nach einer durchzechten Nacht anhörte. Nur am Rande nahm ich wahr, dass er Englisch sprach.
Statt zu antworten, wirbelte ich hysterisch herum und schwang die Beine über die Bettkante. Es klirrte scheppernd, weil ich dabei eine leere Flasche Tequila inklusive etlicher Schnapsgläser auf dem Boden umwarf. Jedes einzelne schien mich auszulachen. Ich flüchtete an die Glasfront, möglichst weit weg von meinem Zimmergenossen.
Dieser fuhr sich grinsend mit dem Handtuch über den feucht schimmernden Oberkörper, bevor er es auf das zerwühlte Bett warf. »Alles okay?«, fragte er mit erhobenen Augenbrauen.


Panisch krallte ich die Finger in den schweren Stoff der Vorhänge. Meine Knie waren weich wie Gummi und der Boden unter meinen Füßen tanzte wild im Kreis. Erneut huschte mein Blick zu den verstreuten Gläsern. Ich sah mich genau dort sitzen, gemeinsam mit Jari und einer gigantischen Flasche Tequila zwischen uns.
Jari … sein Name war Jari Mäkinen. Erschrocken presste ich mich an die Glasscheibe, denn sofort schoben sich andere Bilder in meine Gedanken. Das Plakat, das zu Hause über meinem Schreibtisch hing. Das Poster meiner Lieblingsband The Wicked Elephant, das ich mir auf ihrem letzten Konzert in München gekauft hatte.
Nun stand mir ihr Frontsänger halb nackt gegenüber, statt mir morgens mit Rockgitarrenklängen im Auto die Fahrt zu verschönern.
Jari rührte sich nicht von der Stelle, als das Lächeln auf seinen Lippen erlosch. Meine Reaktion auf sein Erscheinen gefiel ihm wohl nicht. Düster starrte er mich an. Ich schüttelte den Kopf, dabei flackerten weitere Bilder vor meinem inneren Auge auf.


Jari und ich auf einer Parkbank, irgendwo im Nirgendwo, umgeben von Dunkelheit, Tausende Sterne über uns.
Als er Anstalten machte, einen Schritt auf mich zuzugehen, presste ich mich weiter gegen die kalte Glasscheibe. »Warte!«
Er zuckte zusammen, wich instinktiv zurück. Ich bildete mir ein, ein Knacken der Scheibe zu hören. Es hätten genauso gut meine Knochen sein können.
»Wo sind meine Sachen? Meine Klamotten?«, krächzte ich.
Er trat einen Schritt zur Seite und bückte sich. Die Erinnerungsfetzen in meinen Gedanken machten mich verrückt. Ähnlich dem hysterischen Stroboskoplicht in Clubs, erschlug mich ein Bild nach dem anderen.
Louisa und ich checkten im Hotel ein. Wir wollten feiern, als gäbe es kein Morgen, um meinen Geburtstag ausgiebig zu ehren und meinen Trennungsschmerz zu betäuben.
Jari richtete sich auf und warf einen Stapel Kleidungsstücke aufs Bett. Sofort erkannte ich die schwarze Jeans mit den aufgenähten Pailletten sowie Louisas weiße Bluse, die sie mir geborgt hatte.


Er verschränkte die Arme vor der Brust und zog erneut die Augenbrauen nach oben. Diesmal eindeutig anklagend. Das schwarz tätowierte Muster, das sich von seiner Schulter über den Oberarm und weiter über die Brust zog, kam mir bekannt vor. Genauso die Geste, wenn er sich mit den Fingern über die Stirn rieb. Jari hatte ein markantes Gesicht. Die dunklen Ringe unter den Augen entstellten ihn nicht. Gähnend kratzte er sich über den Bartansatz und zerzauste sich die blonden Haare. Der Anblick löste ein vertrautes Gefühl in mir aus, das nicht nur von diesem Poster in meiner Wohnung herrührte.
Jari machte wieder einen Schritt auf mich zu. Erneut zuckte ich zurück.
»Bleib, wo du bist.«
Sichtlich genervt seufzte er, blieb jedoch stehen, wo er war.
»Meine Unterwäsche?«, fragte ich piepsig.
Er verdrehte die Augen, wandte sich um und ging zu dem weißen Sofa gegenüber des Betts. Ich hatte meinen schwarzen Slip samt BH vorher nicht mal gesehen, jetzt warf er sie mir vor die Füße.
Die Illusion, dass wir nur geredet hatten und eingeschlafen waren, löste sich damit in Luft auf. Man führte keine geistreichen Diskussionen ohne Schlüpfer. Außerdem ist es nie gut, wenn ein Mann besser als du darüber Bescheid weiß, wo deine Unterwäsche liegt.
Erwartungsvoll starrte er mich aus blauen Augen an. Ein tiefer Atemzug ging durch seinen Körper. Ich hingegen war alles andere als ruhig. Meine Fingerknöchel liefen weiß an, weil ich den Stoff der Vorhänge noch fester an mich zog. Dabei fiel mir ein Glitzern ins Auge.
Ich senkte den Blick und musste zweimal hinsehen, um mich zu vergewissern, dass er tatsächlich an meinem Finger steckte und fröhlich das Sonnenlicht spiegelte. Ein obszön großer, weißer Diamantring prangte an meiner zitternden Hand.
Verdammter Mist.
Plötzlich drehte sich das Zimmer schneller. Keuchend plumpste ich auf den Boden, der Ring fühlte sich tausend Kilo schwer an. Ungläubig sah ich von dem Schmuckstück zu Jari, zurück und wieder zu ihm.
Entspannt sank er auf das Sofa und musterte mich intensiv. Ich war nur noch ein kleines Häufchen Elend. Aber verdammt, ich durfte jetzt nicht ausrasten. Ich musste die Geschehnisse ins rechte Licht rücken und mich erinnern, wie ich in dieses Klischee hineingeraten war.

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